Migration im Lande: Eingewandert ins Wipptal - Eine Interviewreihe

„Der Mensch ist immer schon gewandert, ob innerhalb eines Staates oder über die Landesgrenzen hinweg. Menschen wandern, weil sie müssen oder weil sie wollen. Oft kommen mehrere Gründe zusammen.“ (Migrationsbericht Südtirol, Eurac 2020)
Seit Mitte der 1990er Jahre hat die Zahl der Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft, die in Südtirol leben, beständig zugenommen. Die neue Vielfalt in der Provinz ist verbunden auch mit neuen Herausforderungen und Fragen. Anlässlich des Internationalen Tag der Migranten 2020 hat der Sozialdienst der Bezirksgemeinschaft Wipptal eine Interviewreihe mit Menschen gestartet, die aus anderen Ländern gekommen und sich im Wipptal niedergelassen haben.
Die Erzählungen dieser Menschen sollen uns im Jahr 2021 begleiten und ein Schritt zum Kennenlernen sein: Woher kommen die Menschen? Wie war ihr Weg hierher? Wie ist das Leben für sie hier im Wipptal? Wie schaut der Blick in die Zukunft aus? Was ist ihrer Meinung nach wichtig, um gut zusammenleben zu können?

Es ist ein Projekt mit Unterstützung der Freiwilligen des Sozialdienstes der Bezirksgemeinschaft Wipptal. Die Interviews finden Sie hier auf unserer Homepage und im Erker-Online.

Unsere bisherige GesprächspartnerInnen:

Interview_mit_Ian_Wells_aus_Australien.pdf (0.32 MB)

Interview_mit_Olha_Odynets_aus_Kiew.pdf (0.17 MB)

Interview_Mabel_Nilva_Barlassina_aus_Argentinien.pdf (0.33 MB)

Interview mit Mohamed Laabidi, genannt Simo, Sterzing - geboren in Mescura, Marokko

Foto von Simo


Interview am 20.03.2021 mit Hilfe von Anna Pantano, Freiwillige des Sozialdienstes Wipptal

1. Wie ich hierher kam

Ich bin dank meines Vaters hierhergekommen. Er hatte kein leichtes Leben als Kind, es war hart. Wie für alle Marokkaner war es sein Traum, nach Europa zu gehen. Er bestieg ein Schiff und kam in Italien an. Er war einer der ersten, die es geschafft haben, es war eine schwierige Erfahrung für ihn. Es war kalt, er hatte keine Unterkunft, kein Geld, er konnte die Sprache nicht, er musste viele Strapazen überstehen. Er fand eine Arbeit in Kalabrien, dann in Bozen. Als er 1999 seine Papiere in Ordnung hatte, kamen auch wir nach Italien: meine Mutter, meine Schwester und ich. Ich war drei Jahre alt. Der Bruder meines Großvaters hatte uns zum Flughafen in Casablanca gebracht und mein Vater holte uns mit dem Auto am italienischen Flughafen ab. Es geht ihm gut, er arbeitet als Wartungsarbeiter bei der Firma Leitner.

Ich weiß noch, dass ich im Kindergarten geweint habe, denn ich wollte nicht ohne meine Mutter bleiben. Ich habe die italienischsprachige Grundschule und Mittelschule besucht. Ich wollte Mechaniker werden und schrieb mich an der Berufsschule in Bozen ein. Aber es war nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich arbeite gerne mit Werkzeug, zerlege und baue wieder zusammen, stattdessen ist jetzt alles elektronisch. Das hat mir nicht gefallen und die Professoren haben mich verstanden. Eines Tages rief mich ein Professor zu sich und zeigte mir das Werkstattauto, das voll mit Laub auf den Sitzen war, die Karosserie war völlig ruiniert. Er fragte mich, ob ich es etwas sauber machen könne. Ich mag es, ein Auto zu reinigen und es wieder wie neu aussehen zu lassen, und so sagte ich zu. Als der Professor zurückkam, blieb er fünf Minuten sprachlos und bestaunte das Auto. Er sagte, er habe es nicht mehr wiedererkannt und alle schauten sich das Auto an, weil es so gut wie neu aussah.

Dann habe ich verschiedene Arbeitserfahrungen gemacht und dank meines Vaters arbeite ich seit mehr als eineinhalb Jahren in der Autowaschanlage. Das ist meine Arbeit, ich mache sie gerne, es ist eine große Genugtuung, die Kunden sind zufrieden. Wir wissen, wie man ein Auto gut reinigt. Gott sei Dank habe ich einen super Chef, der mich unterstützt und wir arbeiten gut und mit viel Einsatz, auch unter Zeitdruck.  


2.    Wie ich hier bin

Ich fühle mich in Südtirol sehr wohl, ich lebe gerne in Sterzing. Hier kann man sein Fahrrad draußen stehen lassen, die Stadt ist klein und sauber. Das Einzige ist, dass es für junge Leute keine Lokale mehr gibt, man kann nicht ausgehen, man kann keinen Spaß haben, man kann nicht tanzen, die Pubs haben alle zugemacht, schon vor Covid.

Ansonsten jedoch kann man hier gut leben. Ich liebe diese Berge. Ich fahre überall mit dem Fahrrad hin und kann damit jeden Ort erreichen, brauche keinen Bus zu benutzen. Ich treffe viele Leute und habe viele Freunde. Es gibt einige, denen ich ganz vertraue, wie Brüdern. Ich komme sehr gut mit meinen Freunden aus, solche Freundschaften finde ich sonst nirgendwo. Wenn es etwas gibt, sagen sie es einem direkt ins Gesicht und machen nichts anderes.

Früher bin ich fast jedes Jahr nach Marokko gefahren, aber seit 5 Jahren ist das nicht mehr möglich. Ich hatte Pläne im Kopf, den Führerschein, das Auto, und ich konnte nicht für die Reise sparen. Ich habe etwas Sehnsucht. Im August sind wir immer nach Marokko gereist  und als Kind sagte ich mir, dass ich niemals in meinem Leben eine Reise nach Marokko auslassen werde. Dort ist es so heiß, dass von Mittag bis 17 Uhr alle im Hause bleiben. Am Abend gibt es Musik und Unterhaltung auf den Straßen. Wenn ich dort bin, reise ich im Land umher und besuche die schönsten Orte. Man kann gut essen in Marokko, das frische Gemüse in Kisten kaufen, das kostet wirklich wenig. Das einzige, was teurer ist, sind die Autos. Mittlerweile gibt es immer mehr Menschen, die dort studiert haben und Arbeit finden konnten.

Jetzt lebe ich allein, obwohl meine Eltern mich gerne bei sich hätten, aber ich wollte meinen eigenen Raum. Ich war etwas besorgt, es zu schaffen, selbständig mit dem zu leben, was ich verdiene. Aber ich habe gelernt, mein Geld zu verwalten. Das ist eine schöne Erfahrung.
Ich bin seit 11 Jahren italienischer Staatsbürger.  

3.    Wie ich mir meine Zukunft vorstelle

Ich reise gerne und viel. Auf der Fahrt nach Marokko habe ich auch ein bisschen von Frankreich gesehen. Ich möchte Spanien und in Zukunft auch Amerika besuchen. Mir gefällt es sehr, andere Orte zu sehen, ich fühle da wirklich eine andere Emotion. Eine Reise vergisst man am Ende nie, sie bleibt immer erhalten. Viele sagen, dass sie in Sterzing deprimiert sind, weil der Ort klein ist und man am Ende immer dieselben Leute und dieselben Orte sieht. Hin und wieder zu verreisen, auch mit den Freunden, hilft dir den Kopf frei zu bekommen, man lernt viel und es ist schön. Im Moment ist es schwierig. Aber ich bin froh, dass ich eine Arbeit habe. Die Zahl der Kunden an der Waschanlage ist etwas zurückgegangen, aber zum Glück gibt es genug zu tun.


4.    Was ist wichtig zu wissen? Was ist für ein gutes Zusammenleben wichtig?

Man muss Deutsch sprechen können, Deutsch ist hier sehr wichtig. Ich hatte großes Glück, dass der Chef mich genommen hat. Er hilft mir und er sagte, langsam, langsam lernst du es. Die wichtigsten Wörter, die ich für die Arbeit brauche, kann ich schon. Ich möchte mein Deutsch noch verbessern.
Ich habe eine sehr schöne Erinnerung an die Italienischlehrerin meiner Schwester. Sie hat auch mir sehr geholfen. Die Schule ist wichtig. Wenn man nicht studieren will, muss man sich eine Arbeit suchen und sich einsetzen. Wer sich bemüht, findet hier eine Arbeit.

Meine Mutter atmet immer auf, wenn sie nach Marokko zurückkommt, da sie dort ihre Familie und ihre Freundinnen hat. Alle Verwandten besuchen uns dann und sie verbringt viele Stunden damit, für die Gäste zu kochen. Mein Vater hilft ihr dabei. Verwandte zu sehen, mit ihnen in Beziehung zu sein, ist in Marokko sehr wichtig. Hier haben sie bemerkt, dass der Kontakt zu Verwandten nicht immer so eng und häufig ist. Aber wenn ich in Marokko bin, reise ich gerne und habe nicht viel Zeit, all meine Onkels und Cousins zu treffen.

19.04.2021

DEU