Migration im Lande: Eingewandert ins Wipptal – eine Interviewreihe

Diese Interviewreihe ist ein Schritt zum Kennenlernen von MitbürgerInnen, die aus anderen Ländern ins Wipptal gekommen sind und hier leben.

Es ist Projekt mit Unterstützung der Freiwilligen des Sozialdienstes der Bezirksgemeinschaft Wipptal. 

Wir danken all jenen, die uns an ihren Erfahrungen teilhaben lassen.

Unsere bisherige GesprächspartnerInnen:

Interview_Ian_Wells_aus_Australien.pdf (0.32 MB)

Interview_mit_Olha_Odynets_Ukraine.pdf (0.17 MB)

Interview_Mabel_Nilva_Barlassina_Argentinien.pdf (0.33 MB)

Interview_Mohamed_Laabidi_Marokko.pdf (0.22 MB)

Interview_Nahoko_Komatsu_Japan.pdf (0.28 MB)

Interview mit Herrn Habib: Tunesien - Sterzing

Foto des Landes


Interviewt im Juli 2021 im Rahmen der Freiwilligenarbeit des Sozialdienstes Wipptal  

1.    Wie ich hierher kam

Hier ins Wipptal kam ich 2011 aufgrund einer Stellenanzeige eines örtlichen Unternehmens. Ich habe in Bozen gelebt und gearbeitet. Vor mehr als 20 Jahren habe ich Tunesien verlassen und bin nach Südtirol gekommen. Ein Freund, der bereits in Bozen arbeitete, hat mich überredet zu kommen, da sein Arbeitgeber einen Elektrotechniker suchte und das war der Beruf, den ich gelernt hatte. Ich bin noch nie woanders in Italien gewesen, ich kenne das Land nicht, nur Südtirol. Danach habe ich auch für andere Firmen hier im Bezirk gearbeitet. In Tunesien arbeitete ich für ein großes Unternehmen in Bizerte, das Schiffe reparierte. Aber dann kam die Krise in Tunesien mit Mangel an Arbeit. So brachte mich mein Freund dazu, nach Italien zu kommen. Gleich am ersten Tag hier habe ich mich um alle Dokumente gekümmert. Ich hatte keine großen Probleme mit der Sprache, weil man in Tunesien italienische Fernsehsender empfangen hat und es gibt auch viele Italiener, die schon lange dort leben. Ich kannte die Sprache also ein wenig und sprach ein paar Worte. Es gibt auch Straßen mit italienischen Namen, zum Beispiel die Via Roma in Tunis, wo Italiener wohnen. Ich bin allein gekommen, und ich bin auch heute noch allein hier.

2.    Wie bin ich hier

Im Moment geht es mir gut. Mir geht es gut, solange ich ein Haus und eine Arbeit habe, geht es mir gut. Am Anfang fühlte ich mich etwas fremd und ich merkte, dass die Menschen hier nicht an Ausländer wie mich gewöhnt waren. Dann lernten sie mich allmählich kennen, sie sahen mich im Geschäft oder in der Bar und gewöhnten sich an mich, sogar die Nachbarn. Jetzt kennt mich jeder, denn ich respektiere jeden, man kennt mich, weil ich seit zehn Jahren hier bin. Ich hatte auch eine schwere Zeit ohne Arbeit und auch ohne Haus in dieser sehr kalten Gegend. Gott sei Dank habe ich einige Personen gefunden, die mir geholfen haben, vor allem Leute von hier. Ich habe mich hier nie allein gefühlt Hier in der Zone leben nur sehr wenige Menschen aus Tunesien. Manchmal war ich verzweifelt aber dann fand ich Menschen, die mir halfen und es ging mir gut.

3.    Wie ich mir meine Zukunft vorstelle

Ich hoffe, dass es morgen gut gehen wird, auch besser als heute, so sagt man in Tunesien. Solange es die Gesundheit und Arbeit gibt, geht es mir gut und ich denke und hoffe, dass es auch morgen noch gut sein wird. Ich bin nicht mehr jung, ich bin nicht mehr 20 oder 30 und ich plane nicht mehr. Jetzt denke ich nur noch an meine Gesundheit und an meine Arbeit. Im Moment arbeite ich, ich mag jede Arbeit, ich respektiere alle Arten von Arbeit. Gott sei Dank habe ich so viele Dinge gelernt, dass ich alles machen kann. Jedes Mal, wenn ich etwas lerne, gefällt es mir. Die Menschen lernen ihr ganzes Leben lang, solange sie den Willen dazu haben, ist es kein Problem zu lernen. Ich glaube nicht, dass das Alter etwas damit zu tun hat, das sind nur Jahre, die man an den Fingern abzählen kann. Solange man sich gut fühlt und die Gesundheit gut ist, arbeitet der Mensch bis zuletzt. Denn niemand weiß, wann sein Ende kommt. Ich bin glücklich, solange es mir gut geht. 

4.    Was ist wichtig zu wissen? Was ist für ein gutes Zusammenleben erforderlich?

Meine Familie ist in Tunesien, meine beiden Kinder sind erwachsen, sie sind verheiratet und es geht ihnen gut. Ich bin Großvater. Ich habe sie seit fast zwei Jahren wegen Covid nicht mehr besucht. Dort ist bis heute alles geschlossen. Es geht ihnen nicht gut. Es ist immer noch meine Heimat, meine Freunde, wo ich aufgewachsen bin. In Tunesien sagt man zum Land, in dem man geboren und aufgewachsen ist: 'Sie ist die erste Mutter'. Von Anfang an hatte ich Heimweh nach meiner Familie, meinen Freunden, meinen Brüdern und meinen Neffen. Aber ich habe mich an dieses Leben hier gewöhnt, an alles.

Ich mag dieses Land, weil niemand einem etwas Böses antut. Solange man den anderen respektiert, wird man von den Leuten auch respektiert. Wenn man hier einen Krankenwagen braucht, wenn man krank ist, kommt er sofort und man muss nicht vorher zahlen. Das ist das Gute, was mich hier hält.

Wenn man in Tunesien kein Geld hat, bekommt man keine medizinische Hilfe. Die Gerechtigkeit funktioniert nicht wie hier, wie in Europa. Sie ist nicht für alle gleich, nur arme Leute die Fehler machen, müssen zahlen. Für die Reichen ist das anders. Hier gibt es Demokratie, ich lebe hier und ich sehe den Unterschied. Ihr wisst es nicht, nur jemand, der aus einem anderen Land kommt, der gelitten hat, weiß, wie gut es hier ist. 

In unserem Land gibt es nur die Staatsbürgerschaft, aber keine Arbeit, selbst wenn man zur Universität geht, gibt es keine Arbeit. Alles funktioniert auf der Basis von Beziehungen, sonst muss man zahlen. Es gibt keinen Hunger, es gibt Essen für alle, aber die soziale Gerechtigkeit gibt es nicht. Die wahre Mutter, (d. h. dein Land) ist diejenige, die das Kind gut erzieht, nicht diejenige, die es auf der Straße zurücklässt. Deshalb ist das, wo ich gut lebe, wo ich mich wohl fühle, mein Land. Wo ich Hilfe bekomme, wenn es mir nicht gut geht, wo ich einen Arzt finde, geht es mir gut. Hier ist mein Land.

In meinem Herkunftsland sind die Menschen an die herrschende Situation fast schon gewöhnt. Sie denken, dass es richtig ist, aber ich sehe, dass es falsch ist. Ich sehe alles, sobald ich dort bin, fällt mir alles wieder ein und ich sehe, wie die Menschen behandelt werden. 

Glücklicherweise hat sich die Lage in letzter Zeit ein wenig zum Besseren gewendet und so hoffe ich jetzt und vertraue darauf, dass sich die Dinge in Tunesien weiter verbessern werden.

Am Ende sagt jeder: Das ist mein Land, meine Familie ist dort, meine Großeltern, Urgroßeltern, Freunde, alle. Natürlich muss ich zu ihnen und sie besuchen. Gott sei Dank hat jemand das Internet erfunden, über das man mit jedem per Video reden kann. So fühle ich mich ein bisschen verbundener mit ihnen, ich fühle mich ein bisschen zu Hause bei ihnen. Es ist nicht mehr wie früher, als ich Briefe schickte und es 1-2 Monate dauerte, bis ich eine Antwort bekam. Jetzt spreche ich mit den Kindern über Video. Die Enkelkinder kennen mich, nur das jüngste kennt mich noch nicht.

Für mich hat das Interview etwas Last von den Schultern genommen.  

Das Land ist schön.

 

Tee und geröstete Kürbiskerne

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Die Brücke von Beja

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16.08.2021

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