„Migration im Lande – Eingewandert ins Wipptal“ : Abschluss der Interviewreihe

Mit dem Beitrag von Frau Johanna Mitterhofer schließen wir unsere Interviewreihe „Migration im Lande – Eingewandert ins Wipptal“ ab. Acht Frauen und Männer aus verschiedenen Ländern und Kulturen haben auf unsere Fragen geantwortet und von ihren persönlichen Erfahrungen berichtet. 

 „Mit Hilfe unserer Freiwilligen des Sprachencafés wurde dieses Sensibilisierungsprojekt zum Thema Migration vor einem Jahr, am 18. Dezember, dem internationalen Tag der Migranten, gestartet. Ich bedanke mich an dieser Stelle bei Christine Haller Zwischenbrugger, Anna Pantano und Patricia Holloway für ihre Unterstützung.  Ein großer Dank geht an unsere Gesprächspartner*innen für Ihr Vertrauen und ihren Mut. Jedes Interview war ein ganz besonderes Erlebnis. Es war berührend, belehrend und erhellend, einen Einblick in ihre verschiedenen Lebensgeschichten zu bekommen und an ihren ganz persönlichen Gedanken teilhaben zu dürfen. Auch der Redaktion des ERKER sei gedankt für die gute Zusammenarbeit“, freut sich Sieglinde Sigmund, Initiatorin des Projekts im Rahmen ihrer Arbeit als Fachkraft für Gemeinwesenarbeit im Sozialsprengel Wipptal.


Johanna Mitterhofer

 

Johanna Mitterhofer, Sozialanthropologin an der Eurac Bozen, im Gespräch mit Sieglinde Sigmund

Johanna Mitterhofer: Die schönen Interviews mit „neuen“ Wipptaler*innen, die im ERKER und auf der Website der Bezirksgemeinschaft veröffentlicht wurden, zeigen, wieviel Vielfalt es auch in den kleineren Südtiroler Orten und Tälern gibt und wie unterschiedlich diese Personen auch sind, die sich das Wipptal zu ihrer neuen Heimat gemacht haben. Es sind sehr viel mehr Menschen in Bewegung, als wir auf den ersten Blick wahrnehmen, allerdings mit sehr unterschiedlichen Motivationen und Ressourcen. Es bleibt zudem wichtig zu betonen: Auch viele Südtiroler*innen haben Migrationserfahrungen. Ich selbst auch: Ich wurde im Pustertal geboren, habe dann mit 17 eine internationale Schule nahe Triest besucht, anschließend ein Freiwilligenjahr in Indien gemacht und dann in England und in den USA studiert und gearbeitet. Nach 10 Jahren „Migrantin-Sein“ bin ich dann wieder nach Südtirol zurückgekommen und beschäftige mich als Wissenschaftlerin an der Eurac mit den Chancen und Herausforderungen einer pluralen Gesellschaft.

Sie haben viele Erfahrungen im Ausland – was war wichtig zu wissen, damit Sie sich dort, in anderen Ländern, wohl gefühlt haben? Was war hilfreich?

Johanna Mitterhofer: Hierzu muss ich sagen, dass ich immer eine privilegierte Migrantin war und so gut wie nie mit Diskriminierung konfrontiert war. Mein italienischer Pass, mein Privileg „weiß“ zu sein, das Geld auf dem Bankkonto, meine Sprachkenntnisse, haben mein Leben im Ausland recht einfach gemacht. Außerdem habe ich in England und den USA in Städten gelebt, wo es ganz selbstverständlich war, dass die Nachbarin aus Kolumbien stammte, die Bankbeamtin ein Kopftuch trug, der Bürgermeister pakistanischer Abstammung war. Das heißt, ich als Italienerin bin gar nicht aufgefallen. Hilfreich fand ich besonders das Verständnis bei verschiedenen Ämtern, dass nicht jede*r sich mit der Bürokratie, dem System des Landes auskennt: Beim Eröffnen eines amerikanischen Bankkontos oder der Eintragung beim englischen Hausarzt war es super, dass sie Erfahrung hatten mit Menschen, die von anderswo kamen.

Stichwort „plurale“ Gesellschaft – was meinen Sie damit?

Johanna Mitterhofer: Wer vor 25 Jahren von der sprachlichen und kulturellen Vielfalt in Südtirol sprach, der meinte die drei historischen Sprachgruppen. Seit Mitte der 1990er Jahre jedoch hat die Zahl der Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft, die in Südtirol leben, beständig zugenommen, und alles spricht dafür, dass sie weiter zunehmen wird, trotz Pandemie. Die wachsende Bevölkerung mit Migrationshintergrund – 16.000 Menschen im Jahr 2002, fast drei Mal so viele, über 50.000, im Jahr 2017 – bringt neue Vielfalt in die Provinz, und damit auch neue Herausforderungen und Fragen. Noch vor einigen Jahren habe ich, wenn man mich nach meiner Forschungsarbeit fragte, gesagt, dass ich mich mit Migration und Integration beschäftige. Allerdings finde ich es sehr schwierig, unsere heutige Gesellschaft nach Kategorien „Migrant*in“ und „Nicht-Migrant*in“ zu beschreiben. Zu unterschiedlich sind z.B. „Nicht-Migrant*innen“ untereinander, zu sehr ähnelt eine „Südtiroler“ Jugendliche einer albanisch-stämmigen. Außerdem: Wann akzeptieren wir eine Person mit Migrationshintergrund – die vielleicht sogar im Brixner Krankenhaus auf die Welt gekommen ist, als Südtiroler*in, anstatt von ihr als „Ausländerkind“ oder Migrantin zu sprechen? Deshalb spreche ich jetzt von einer pluralen Gesellschaft. Um zu verstehen, was es braucht, damit es allen, die ihren Lebensmittelpunkt in Südtirol haben, gut geht und sich alle als Teil der Südtiroler Gesellschaft fühlen können - dafür müssen wir der Realität ins Auge sehen: Die Gesellschaft, in der wir wohnen, ist divers, sie ist plural, und damit muss jede*r von uns lernen, umzugehen.

Was ist dafür wichtig? Was kann den Zusammenhalt, das Zusammenleben und Wohlergehen aller Bürger*innen fördern? 

Johanna Mitterhofer: Im Migrationsreport Südtirol, den Eurac Research letztes Jahr veröffentlicht hat, geben wir einige Anregungen dafür: 

-     Die Förderung der politischen Teilnahme von Personen, die zwar hier leben und arbeiten, aber nicht die italienische Staatsbürgerschaft haben und deshalb nicht wählen dürfen;

-     oder tiefgreifende Maßnahmen gegen Diskriminierungen aller Art, die auch langfristig wirken;

-     und ganz wichtig: Das Schaffen eines Bewusstseins, dass Diversität wirklich einen Mehrwert haben kann, der die soziale und wirtschaftliche Innovation anzukurbeln vermag.


Wer ist Migrant*in?

Hängt es von der zurückgelegten Entfernung ab? Von der Dauer des Aufenthalts am neuen Ort? Von den sozioökonomischen Umständen des einzelnen Menschen? Oder von denen des Ankunftsortes? Beruflich wie privat begegnen wir immer wieder Menschen, die von weither gekommen sind: Unternehmensberater aus London, Ingenieurinnen aus München, Facharbeiter aus anderen Regionen Italiens, die in Südtiroler Unternehmen arbeiten. Sie alle leben und arbeiten in Südtirol – manche schon seit vielen Jahren, manche aber auch nur für einige Monate oder jeweils ein paar Tage in der Woche. Trotzdem würden wir sie kaum als „Migrantinnen und Migranten“ bezeichnen, obwohl die Internationale Organisation für Migration der Vereinten Nationen (IOM) jeden Menschen als Migrant oder Migrantin definiert, der eine internationale Grenze überschritten (internationale Migration) oder innerhalb eines Landes seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort verlassen hat (interne Migration). In der Tat ist es schwierig, klar zu definieren, wer Migrant oder Migrantin ist. In einem umfassenden Sinn betrachtet, sind nämlich alle Lebewesen Migranten – Menschen, Tiere und sogar Pflanzen. Der Mensch ist schon immer gewandert, ob innerhalb eines Staates oder über die Landesgrenzen hinweg. Menschen wandern, weil sie müssen oder weil sie es wollen. Oft kommen mehrere Gründe zusammen, die sich nicht immer klar voneinander trennen lassen. Wie die archäogenetischen Studien von Johannes Krause ganz deutlich zeigen: Von der Iberischen Halbinsel bis zum Kaspischen Meer sind alle Menschen genetisch „verwandt“. Wir alle sind Migranten. Wir alle stammen von wandernden Völkern ab. Migration ist also nicht unbedingt die Ausnahme; das Ungewöhnliche, so kann es scheinen, ist eher die Sesshaftigkeit. Und wer nicht selbst schon die Erfahrung machte, seinen Herkunfts- oder Wohnort einmal längerfristig zu verlassen, der hat meist Freunde oder Bekannte, die in diesem Sinne „migriert“ sind.
(Aus: Migrationsreport 2020. Eurac Research)

15.12.2021

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