„Wir alle machen Gewalt möglich – jeden Tag aufs Neue“

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Gewalt gegen Frauen ist kein Problem der Frauen. Gewalt gegen Frauen ist auch kein Problem, das nur Frauen lösen können. Es braucht beide Geschlechter und die Mithilfe aller, um eine Veränderung in unserer Gesellschaft zu bewirken. Im Gespräch mit Miriam Fassnauer, Sozialpädagogin und Koordinatorin des „Territorialen Anti-Gewalt-Netzwerkes“ im Wipptal und Andrea Fleckinger, Sozialwissenschaftlerin an der Universität Trient.


Interview: Renate Breitenberger


Erker: Frau Fassnauer, vor einem Jahr ist im Wipptal das „territoriale Anti-Gewalt-Netzwerk gegründet worden. Wie oft hat sich das Netzwerk bereits getroffen? 

Miriam Fassnauer: Wir hatten bis jetzt zwei Netzwerktreffen, das erste im Herbst 2022. Zurzeit geht es vor allem um Informationsverbreitung. Bereits im Netzwerk haben wir gemerkt, dass die Wipptaler zu wenig über das Thema Gewalt gegen Frauen und ihre Kinder informiert sind und nicht immer wissen, wie sie betroffenen Frauen und Kindern konkret helfen können. Erstes Ziel war also, die Netzwerkpartner über die Beratungsstellen bzw. über das Beratungsangebot in Südtirol zu informieren. Ein weiteres Ziel ist es, auch die Bevölkerung zu informieren. Gerade bei uns – auch in der ländlichen Gegend – gibt es geschlechtsspezifische Gewalt. Gleichzeitig wissen die betroffenen Frauen oft nicht, an wen sie sich wenden können. Vielen fehlen auch die Worte, um benennen zu können, was sie gerade erleben. Auch kulturell bedingt ist Gewalt gegen Frauen ein tabuisiertes Thema in Südtirol. Gerade auf Bauernhöfen und in Seitentälern darf aus der Kernfamilie nichts nach außen dringen. 

Ab wann spricht man von Gewalt?

Miriam Fassnauer: Es gibt sehr viele Formen von Gewalt. Für mich beginnt Gewalt bereits in der Sprache. Psychische Gewalt fängt oft schleichend mit Beleidigungen an („Du bist nichts wert“, „Du kannst nichts“, „Schau, wie du aussiehst“). Diese können oft schnell dazu führen, dass der Partner sich über seine Partnerin stellt, ihr Vorschriften macht, ihr Geld verwaltet, ihr Handy kontrolliert, sie sozial isoliert, beschimpft und bedroht.

Andrea Fleckinger: Formal gesehen orientieren wir uns an der Konvention von Istanbul, dem Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung und Verhütung von Gewalt an Frauen, das die verschiedenen Formen von Gewalt definiert – in Italien seit 1. August 2014 gültiges Gesetz. Es gibt körperliche, psychische, ökonomische und sexuelle Gewalt. Immer geht es dabei um Macht und Kontrolle. Oft ist es sehr schwierig, klar zu erkennen, ab wann ein Konflikt zur Gewalt wird. Bei einem Konflikt streiten zwei Personen miteinander, bleiben aber auf Augenhöhe. Dabei kann es durchaus auch vorkommen, dass sie sich gegenseitig anschreien oder sogar schlagen. Trotzdem bleiben sie auf einer Konfliktebene, weil es nicht dieses Machtgefälle und diese Dynamik von Kontrolle gibt. Es ist ein ganz komplexes Misshandlungssystem, in das Frauen Schritt für Schritt hineingeraten. Deshalb ist es für die Betroffenen auch so schwierig, zu benennen, zu verstehen und zu begreifen, was gerade passiert. Dazu kommt, dass gerade Frauen sehr schnell an sich zweifeln und denken, sie übertreiben („Er hat es ja nicht so gemeint“). Oft machen die Männer die Frauen für ihre Taten verantwortlich („Wenn du dich so benimmst, kann ich gar nicht anders, als dich zu beschimpfen oder zu schlagen“). Die große Frage ist auch, was passiert, wenn Frauen zu sprechen beginnen. Welches Feedback bekommt sie? Wie ernst nimmt sie die Gesellschaft? Kann die Person, der sie sich anvertraut, die Gewalt sehen? Kann sie es aushalten, was ihr erzählt wird? Vielleicht ist sie selbst in einer ähnlichen Situation. Es ist auch ein Trugschluss, zu glauben, dass sich ein gewalttätiger Mann automatisch oder wie von selbst bessert. Selbstverständlich können sich gewalttätige Männer verändern, allerdings ist dies ein bewusster und längerer Prozess, bei dem fachliche Begleitung, wie etwa über das Anti-Gewalt-Training, eine oft notwendige Unterstützung darstellt. Gleichzeitig ist die Hoffnung der Frau zu verstehen, sie ist verliebt, arbeitet an der Beziehung und glaubt seinen Versprechungen. Glücklicherweise sind hierzulande die meisten Ehen frei gewählte Liebesbeziehungen. Bei Zwangsehen gibt es noch einmal andere Dynamiken, die das Ganze noch viel schwieriger machen. 

Also betrifft Gewalt gegen Frauen vor allem unsere Kultur, die Südtiroler Kultur?

Miriam Fassnauer: Ich habe lange im Frauenhaus Brixen gearbeitet und kann bestätigen, dass Frauen jeden Standes – egal ob Hausfrau oder Rechtsanwältin, 18- oder 90-Jährige – betroffen sind. Natürlich kommen mehr Frauen mit Migrationshintergrund ins Frauenhaus, da sie kein soziales Netz haben. In den Beratungsstellen hingegen werden mehr Südtiroler Frauen begleitet. Diese können oft vorübergehend bei Freunden oder Familien unterkommen. Deshalb erwecken die Zahlen den Anschein, hauptsächlich Frauen mit Migrationshintergrund seien Überlebende von geschlechtsspezifischer Gewalt.

Andrea Fleckinger: Frauenhäuser bieten auch Beratung an und sie beraten vor allem einheimische Frauen. Sehr schwierig, einen Ausweg zu finden, ist es vor allem für Südtirolerinnen, die einen sozial integrierten, angesehenen und politisch oder in Vereinen aktiven Partner haben. Hier wird kaum für möglich gehalten, dass der charismatische Kollege zuhause gewalttätig ist.

Viele halten es auch kaum für möglich, dass auch Frauen, die im Leben selbstbewusst auftreten, sich in einer Gewaltbeziehung wiederfinden.

Miriam Fassnauer: Das gehört zum Machtsystem des Mannes dazu. Er bringt die Frau dazu, nach außen hin zu funktionieren, die Familie und sich selbst so präsentieren, wie er es haben möchte. Aber hinter den vier Wänden ist die Realität oft eine ganz andere. 

Andrea Fleckinger: Manche Frauen, die ins Frauenhaus gekommen sind, haben in ihrem Leben Karriere gemacht und sind ihre Frau gestanden. Für sie ist es teilweise noch schwieriger, über Gewalt zu erzählen, weil sie in so vielen Bereichen ihres Lebens erfolgreich sind und dieser Erfolg sie trotzdem nicht vor der Gewaltbeziehung geschützt hat. Jede fünfte Frau erlebt in ihrem Leben körperliche oder sexuelle Gewalt. Zählt man psychische Gewalt dazu, erhöhen sich die Gewalttaten um ein Vielfaches. Das Wipptal bildet da keine Ausnahme. 

Haben sich seit der Gründung des Anti-Gewalt-Netzwerkes mehr Frauen bei Ihnen gemeldet? 

Miriam Fassnauer: Fast jede Person, egal welches Geschlechtes, hat in ihrem Leben schon einmal geschlechtsspezifische Gewalt beobachtet, davon gehört oder sich gefragt, ob das, was sie soeben gesehen oder gehört hat, Gewalt ist und ob sie eingreifen soll. Zivilcourage zeigen ist wichtig. Es gibt Wege zu helfen. Wichtig ist natürlich, zunächst sich selber zu schützen. Höre ich Schreie aus der Nachbarwohnung, kann ich die Polizei rufen oder bei der Nachbarin klopfen und sie um eine Packung Nudeln fragen – so tun, als hätte ich nichts mitbekommen, um das Paar abzulenken und die Situation zu beruhigen. Ich kann die Frau ansprechen, ihr Infomaterial geben, ihr sagen, dass ich gesehen habe, was passiert ist, sie fragen, ob alles in Ordnung ist, ob ich helfen kann, ihr sagen, dass es Hilfen gibt. Wichtig ist, sie ohne Mann zu treffen, sonst kann es gefährlich werden, für mich selbst und die betroffene Frau.

Wie wird ein Mann gewalttätig? 

Andrea Fleckinger: Grundsätzlich geht es darum, zu verstehen, anzuerkennen und ernst zu nehmen, dass Gewalt an Frauen ein strukturelles Problem ist, das über Generationen gewachsen ist und auch heute noch durch verschiedenste Methoden und Techniken aufrechterhalten wird. Wir alle – Mädchen wie Jungen – wachsen in eine Gesellschaft hinein, die Gewalt an Frauen möglich macht, jeden Tag aufs Neue. Obwohl in den vergangenen Jahrzehnten mehr über dieses Thema gesprochen wird und Frauenhäuser und andere Anlaufstellen gegründet worden sind, gibt es immer noch Gewalt. Da stellt sich schon die Frage, warum sich nichts oder so wenig bewegt. Das hat natürlich damit zu tun, mit welchem Geschlechterverständnis jeder einzelne von uns aufgewachsen ist. Welche Werte wurden mir in meiner Herkunftsfamilie und in Bildungseinrichtungen vermittelt? Was bedeutet es, ein guter Junge oder ein gutes Mädchen zu sein? Wie viel Gewalt wird innerhalb unserer Gesellschaft toleriert? Welche Frauenwitze sind immer noch salonfähig? Es geht vor allem darum, zu verstehen, mit welchen Mustern ich groß geworden bin, wie ich mich in bestimmten Situationen verhalte, wie ich reagiere, was ich sage – und welche Möglichkeiten des Reagierens ich habe. Spreche ich eine Frau an, bei der ich stark vermute, dass sie in einer Gewaltsituation sein könnte, kann es gut sein, dass sie es im ersten Moment abstreitet und mich zurückweist. Wichtig ist, daraufhin nicht selbst in eine ablehnende Haltung („Noar weart sie des schun brauchen“) zu kommen, sondern dran zu bleiben, sie ein zweites Mal anzusprechen und so an der Veränderung unserer Gesellschaft zu arbeiten. Viele Frauen haben uns erzählt, dass sie zwei Jahre lang die Telefonnummer des Frauenhausdienstes in der Handtasche getragen haben, bis sie sich endlich getraut haben, hinzugehen. 

Miriam Fassnauer: Gar einige Frauen haben uns im Nachhinein erzählt, wie froh sie waren, dass Nachbarn sie angesprochen haben. Weil sie darin bestätigt wurden, dass ihnen Gewalt angetan worden ist. Wer in einem Gewaltsystem steckt, erkennt dies nicht so oft oder schämt sich. Frauen übernehmen oft die Verantwortung des Mannes („Ich habe meinen Mann provoziert, er konnte nicht anders“). 

Wollen wir eine gewaltfreie Gesellschaft sollte also jeder von uns die eigenen Muster hinterfragen.

Andrea Fleckinger: Es braucht viel Kraft, Bewusstsein und eine kontinuierliche Arbeit an der eigenen Veränderung. Rechnen wir die Zahlen der Gewalttaten über Generationen durch, getraue ich mich zu behaupten, dass es in nahezu jeder erweiterten Familie irgendwo eine Situation von Gewalt gibt oder gegeben hat, vielleicht, ohne dass wir davon wissen. Kinder, die Gewalt erleben oder mitansehen, erlernen auch die Strategien der jeweiligen Familien, wie mit dem Thema umgegangen wird: Wird Gewalt akzeptiert, geleugnet, minimiert, die Schuld dem Opfer gegeben?

Miriam Fassnauer: Kinder merken sofort, an welchen Werten ihr Vater und ihre Mutter festhalten und welche Sprache sie verwenden. Sprechen Freunde der Kinder oder Freunde der Familie abwertend über Frauen, sollte man eingreifen und sie fragen: Warum sagst du das? Was wäre, wenn ich so über dich reden würde? Wir alle, Männer und Frauen, müssen einander den Spiegel vorhalten, wir müssen Gewalt benennen und ansprechen, wenn wir etwas nicht in Ordnung finden, damit es auch anderen bewusst wird. Durch das „sich Positionieren“ in der Sprache wird deutlich, an welchem Frauenbild oder auch Männerbild ich festhalte – und das dürfen wir auch unseren Kindern vermitteln, ohne Angst davor, belächelt zu werden. 

Frau Fleckinger, Sie haben auch beim Aufbau eines Anti-Gewalt-Trainings für Männer mitgeholfen. 

Andrea Fleckinger: Bei diesem Training geht es darum, dass Männer, die in ihren Beziehungen gewalttätig sind, lernen, mit Konflikten anders umzugehen, sie anders zu lösen. Anhand der Täterbiographien kann ich häufig sehr gut verstehen, warum jemand gewalttätig geworden ist. Gleichzeitig soll das Verstehen kein Entschuldigen sein. Die Verantwortung für das Handeln bleibt beim Erwachsenen, bleibt beim gewalttätigen Mann. Das Anti-Gewalt-Training bietet Männern mehr Handlungsmöglichkeiten. Es gibt durchaus Frauen, die sich in Beziehungen unmöglich verhalten, Männer an die Grenze bringen. Trotzdem entscheidet der Mann, ob er die Beziehung fortführt, beendet, die Wohnung verlässt oder zuschlägt. Diese Entscheidung wird oft in Sekundenschnelle gefällt. Wer sein Handeln reflektiert, kann sich verändern. Generell gesehen ist Veränderung ein lebenslanger Prozess. Immer wieder geht es darum, das eigene Verhalten zu hinterfragen. 

Suchen Frauen bewusst in einem anderen Bezirk Hilfe, weil im Wipptal jeder jeden kennt?

Miriam Fassnauer: Das kommt vor und ist auch normal. Wichtig ist, dass sich Frauen Hilfe holen. Es gibt landesweit Frauenhäuser und Beratungsdienste. Viele suchen auch jemanden, den sie besser kennen und zu dem sie schon ein bisschen Vertrauen haben. 

Andrea Fleckinger: Jede Frau kann südtirolweit jeden Frauenhausdienst anrufen. Und ganz wichtig: Nur weil Frau Rat sucht, muss sie sich noch lange nicht trennen. Es ist ein Trugschluss, dass ich mich erst beraten lassen darf, wenn ich schon entschieden habe, die Beziehung zu beenden. Es gibt so viele Wege aus der Gewalt, wie es Frauen auf der Welt gibt. Eine Beratung ist anonym, kostenlos und auch Außenstehende können sie in Anspruch nehmen, um gemeinsam zu überlegen, wie man weiter vorgehen kann. 

Gibt es Erfahrungsberichte, in denen Frauen froh waren, sich Hilfe geholt zu haben? 

Miriam Fassnauer: Erst kürzlich hat uns eine Frau umarmt und sich bedankt. Die meisten Frauen, die ins Frauenhaus gekommen sind, sagten, hätten sie gewusst, wie das Leben im Frauenhaus abläuft, wären sie schon viel früher gekommen. Im Frauenhaus wohnt jede Frau selbstständig in ihrer Wohnung. Von der Gewaltspirale auszusteigen, passiert nicht von heute auf morgen. Oft ist es ein jahrelanger Prozess. Schafft es die Frau, ist das ein Riesenschritt. Das Ziel ist aber noch nicht erreicht. 

Andrea Fleckinger: Habe ich den großen Schritt gemacht, ins Frauenhaus zu kommen, wartet schon die nächste Hürde: als alleinerziehende Mutter ohne Arbeit oder mit Teilzeitarbeit eine Wohnung zu finden. Das ist bei uns schwierig bis unmöglich.

Warum?

Andrea Fleckinger: Weil alleinerziehende Mütter mit Teilzeitarbeit für Wohnungsbesitzer nicht vertrauenswürdig genug sind. Auch die hohen Mietpreise sind kaum zu bewältigen. Hier stehen die Wohnungsbesitzer in der Verantwortung. Warum vermiete ich meine Wohnung zu einem hohen Preis? Kann ich ihn auch etwas niedriger ansetzen, um Menschen dadurch zu helfen? Kann ich mir auch vorstellen, meine Wohnung an Personen zu vermieten, die im Moment in einer sehr herausfordernden Lebenssituation sind? Auch hier wird einem Mann, der Vollzeit arbeitet, wesentlich mehr Vertrauen geschenkt als einer Frau mit kleinen Kindern, die womöglich auch noch laut sind. Frauen haben es viel schwieriger, in der Gesellschaft wieder Fuß zu fassen. Hört der Vermieter, dass sie vom Sozialdienst unterstützt wird, ist sie grundsätzlich schon ein Problemfall. Als ob sie die Schuld an ihrer Situation tragen würde, einen Fehler in ihrer Biographie hätte. Dabei braucht sie nur die Unterstützung von uns allen, aber sie kriegt diese nicht immer. 

Miriam Fassnauer: Dieselbe Situation zeigt sich bei der Arbeit. Alleinstehende Frauen mit Kindern im Grundschul- oder Kindergartenalter können nur von 8.00 bis 12.00 Uhr arbeiten, und nicht jede Frau hat das Glück, eine Oma, einen Opa, eine Tante, einen Onkel oder Freunde an ihrer Seite zu haben. Aber der Arbeitsmarkt tickt so: Entweder du kommst unter den Bedingungen der Arbeitsstelle zur Arbeit oder du kriegst die Stelle nicht. Familienfreundlich bzw. frauenfreundlich ist das nicht. Aber das ist ein großes gesellschaftliches Thema. 

Strukturen sind also auch eine Form von Gewalt.

Andrea Fleckinger: Es ist unser Gesellschaftssystem, das Gewalt reproduziert, aufrechterhält, weiterführt und von Gewalt betroffene Frauen aus der gesellschaftlichen Teilhabe ausklammert oder sie zurückdrängt. Auch die Medien gehören dazu. Wir sind darauf trainiert, viele Gewaltsituationen nicht zu sehen oder sie nicht als solche zu erkennen, weil sie uns durch unsere Erziehung schon vertraut geworden sind. Das ist kein persönlicher Fehler, sondern in unserer Gesellschaft verankert. Obwohl wir große Ambitionen haben, wird unser Anti-Gewalt-Netzwerk sicher nicht von heute auf morgen die Gesellschaft verändern können. Aber jede und jeder von uns kann sich fragen: Wie verhalte ich mich? Welche Möglichkeiten habe ich? Wem gebe ich die Wohnung? Wen stelle ich ein? Bin ich mutig genug, betroffene Frauen anzusprechen? 

Miriam Fassnauer: Im Wipptal gibt es viele engagierte Menschen, gerade in den Dörfern. Wir möchten sie ins Netzwerk dazuholen, sie einladen, Frauen zu sensibilisieren, dass sie sich Hilfe holen können. 

Andrea Fleckinger: Gewalt gegen Frauen ist kein Thema der Frauen und es ist kein Thema, das nur Frauen lösen können. Es können nur beide Geschlechter gemeinsam lösen. Im Netzwerk sind deshalb auch Männer herzlich willkommen. Langfristig gesehen ist es wichtig, auch engagierte Männer einzubinden, die ihren Beitrag leisten möchten, in ihren Gruppen und mit ihren Kontakten über Gewalt sprechen und dadurch Veränderung bewirken. Positioniert sich ein Mann klar und sagt „Stopp, ich bin gegen Männergewalt an Frauen!“, weiß das sein Umfeld und es wird anders mit ihm reden. Auch so kann ein Wandel passieren. 

Welche Schritte sind in den nächsten Monaten geplant?

Miriam Fassnauer: Wir versuchen viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Ein Netzwerk aufzubauen, ist mit sehr viel Arbeit verbunden. Bis Jahresende werden wir einige Aktionen veranstalten, u. a. Informationsabende für die Bevölkerung. Wer sich im Netzwerk engagieren möchte, ist jederzeit willkommen. Auch kann sich jeder bei uns melden, der sich informieren möchte, Kontakte oder ein Gespräch sucht. Gerade für Frauen ist es wichtig, zu wissen, dass die Beratung in den Frauenhausdiensten anonym und kostenlos ist, dass sie ernst genommen werden. Schritt für Schritt versuchen wir auf diese Weise, eine neue Zukunft zu ermöglichen, eine Zukunft ohne Gewalt. 



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Das Netzwerk

Im Dezember 2021 hat die Landesregierung das Gesetz 13/21 gegen Gewalt an Frauen und ihren Kindern verabschiedet. Dieses sieht den landesweiten Aufbau von Netzwerken vor. Seit 2022 tagt der Koordinierungstisch zweimal im Jahr gemeinsam mit Vertreterinnen von Frauenhäusern, Frauenbüro und Beirat für Chancengleichheit und den Referenten, die von den Bezirken oder Gemeinden ernannt worden sind. Auch im Wipptal bauen die Bezirksgemeinschaften als Träger der Sozialdienste ein Anti-Gewalt-Netzwerk auf. Koordinatorin des Netzwerkes Wipptal ist Miriam Fassnauer; Maya Obexer (Gemeinde Brenner), Verena Überegger (Freienfeld), Giovanna Summerer (Franzensfeste), Barbara Wielander und Katrin Gottardi (Frauenhaus Brixen), Verena Debiasi (Sterzing), Maria Rabensteiner (Pfitsch), Andrea Hellweger (Ratschings), Karin Hochrainer (Stadtbibliothek Sterzing) sind aktive Mitglieder. 


Zitate

Andrea Fleckinger: „Jede fünfte Frau erlebt in ihrem Leben körperliche oder sexuelle Gewalt.“ 

Andrea Fleckinger: „Die Verantwortung für das Handeln bleibt beim Erwachsenen, bleibt beim gewalttätigen Mann.“

Miriam Fassnauer: „Gewalt beginnt schleichend und fängt oft mit Beleidigungen an“

Miriam Fassnauer: „Von der Gewaltspirale auszusteigen, passiert nicht von heute auf morgen. Oft ist es ein jahrelanger Prozess.“ 


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Hier gibt es Hilfe


Grüne Nummern – rund um die Uhr erreichbar

Italienweiter Notruf gegen Gewalt und Stalking: 1522

Beratungsstelle für Frauen in Gewaltsituationen und Frauenhaus: 800 276 433 (Bozen), 800 014 008 (Meran), 800 601 330 (Brixen)


Grüne Nummern – zu festen Zeiten erreichbar 

Beratungsstelle für Frauen in Gewaltsituationen und Geschützte Wohnungen in Brixen: Romstraße 7 (ehemals Krankenkasse, 2. Stock) in Brixen. Tel. 0472 820587 oder 0472 820578, E-Mail frauenhaus.brixen@bzgeis.org

Auf Terminvereinbarung sind auch Beratungsgespräche im Fuggerhaus in Sterzing möglich (Tel. 0472 820587 oder 0472 820578 oder 800 601 330) 

Beratungsstelle und geschützte Wohnungen: Tel. 800 892 828 (Bozen), 800 310 303 (Bruneck) 


Erika

Geschützter Weg aus der Gewalt

Brauchen Gewaltopfer dringende medizinische Versorgung, können sie jederzeit in die Triage der Notaufnahme kommen. Dort werden sie vom medizinischen Personal sofort in einer geschützten Ambulanz untersucht und nach ihrem Einverständnis Polizei und Mitarbeiterinnen der Kontaktstelle gegen Gewalt vermittelt. Die Polizei bietet der Frau Hilfe, Schutz und genaue Informationen. Die Mitarbeiterin der Kontaktstelle gegen Gewalt bietet individuelle Beratung an, gegebenenfalls direkt im Krankenhaus. 

Anti-Gewalt Training für Männer 

Regelmäßige, kostenlose Treffen (dt./ital.) mit Fachleuten über einen Zeitraum von acht bis zwölf Monaten, Caritas Männerberatung, Bozner Lauben 9 bzw. Gummergasse 6, Tel. 0471 324 649, E-Mail mb@caritas.bz.it. Auf Anfragen Beratungen in Meran und Brixen. 



Quelle: Erker 06/2023  

Titelgeschichte_Erker_06-2023

16.08.2023

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